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Sometimes it snows in April - Eine persönliche Erinnerung

Über Nacht ist der angekündigte Wetterumschwung dann doch gekommen. Hamburg zeigt sich an diesem Sonntag im April von seiner ungemütlichen, nasskalten Seite. Ein scharfer Wind fegt durch die Straßen, am Morgen zog sogar ein heftiger Schneeschauer über die Stadt hinweg. Ideales Kinowetter also.

In 14 Kinos der Stadt wird heute unter dem Motto »Eine Stadt sieht einen Film« dem Film Absolute Giganten ein filmisches Denkmal gesetzt. Auch einige Protagonisten, allen voran Regisseur Sebastian Schipper und einige Darsteller, haben sich angekündigt und werden eine Reise durch die Hamburger Kinosäle antreten.

Quasi als i-Tüpfelchen hat das Metropolis Kino eine kleine, aber feine Retrospektive zu Ehren von Frank Giering in Aussicht gestellt, in der neben Funny Games auch der selten gezeigte Film Gangster, der ebenfalls in Hamburg gedreht worden ist, zu sehen sein würde. Auch eine Fotoausstellung mit Setbildern aus Absolute Giganten des Fotografen Gordon A. Timpen war geplant. Klar, dass wir dabei sein mussten!

Natürlich wird es heute in ersterLinie um Absolute Giganten gehen. Und ein wenig auch um Hamburg selbst. Trotzdem schwingt die leise Hoffnungmit, dass die eine Person, die heute leider fehlen wird, in all dem Trubel und der Heiterkeit nicht ganz vergessen wird.

In den Zeise-Kinos beginnt unsere Reise. Voll würde es werden, hieß es bereits im Vorfeld. Und dies schien sich tatsächlich zu bewahrheiten. Überraschenderweise waren wir bei weitem nicht die ersten Besucher, die sich lange vor Beginn in die Schlange einreihten.

Am Ende werden es mehr als 2500 Zuschauer sein, die an diesen Tag den Film, die Stadt und vermutlich auch ein wenig sich selbst gefeiert haben.

Nach einem eher zähen Film-Quiz geht es dann mit leichter Verspätung endlich los. Obwohl der Saal mehr als voll ist, herrscht während der Filmvorführung eine fast andächtige Stille. Heute scheinen die stillen Momente, die diesen Film vor allem auszeichnen, im Vordergrund zu stehen. Erst als die Lichter wieder angehen, erwachen die Zuschauer aus ihrer Versunken­heit. Applaus brandet auf, der sich noch verstärkt, als sich Sebastian Schipper, Guido A. Schick und Gustav Peter Wöhler, begleitet von einem Kamerateam des NDR, die Treppe hinunter zur Bühne kämpfen.

Sebastian Schipper genießt sichtlich den warmen Empfang und lässt sich auch durch die etwas verunglückte Vorstellung des überaus nervösen Gastgebers nicht aus der Ruhe bringen. Sofort wendet er sich plaudernd an das Publikum.

Eigentlich, so beginnt er, habe er vorgehabt, sich heimlich hinten ins Kino zu setzen und die Vorstellung zu genießen. Aber das ginge nicht, wurde ihm mitgeteilt. Das Kino sei voll.

Fast staunend schaut er sich im großen Rund um und bedankt sich artig für das zahlreiche Erscheinen. Er fühle sich so eingeladen, fährt er fort, so sehr zu Gast.

Und dann fängt er einfach an zu erzählen. Von seiner anfänglichen Naivität und dass er nie mehr über das Filmgeschäft wusste als an seinem ersten Drehtag. Davon dass er früher jede Gelegenheit genutzt habe, das ungeliebte München zu verlassen, um Freunde in Hamburg zu besuchen. Einfach weil er die Stadt so toll fand. Was auch daran lag, dass all die Orte, die in Absolute Giganten eine Rolle spielten, die es heute teilweise gar nicht mehr gäbe oder für Besucher gesperrt seien, damals für jeden frei zugänglich waren. Selbst das Hafengebiet, in dem er früher oft mit seinen Freunden gesessen habe. Diese Stadt wollte er unbedingt als Kulisse für seinen Film. Auch wenn er selbst nie hier gelebt hatte.

Er spricht über die Begeisterung und Hingabe des ganzen Teams. »Wir sind damals komplett mit losgelöster Handbremse gefahren!« Rückblickend denkt er, dass der Zuschauer dies spürt und dass dies letztendlich den Erfolg des Filmes ausgemacht habe. Ähnlich wie bei der Musik, bei der es auch nicht darauf ankommen würde, ob jemand gut singen kann oder nicht, solange der Zuhörer die Wahrhaftigkeit und das Gefühl hinter dem Song erkennt, ist es auch beim Filmemachen. Es gehe nicht wie in der Schule darum, eine Eins zu bekommen, sondern seinen tiefsten Sehnsüchten nachzugeben. Und so, wie die Musik die Menschen durch ihr Leben begleitet und sie sich einen Song zu ihrem eigenen machen, hat er dies auch bei Absolute Giganten erlebt. Die einzige Währung, die im Endeffekt gilt, ist, ob es den Leuten etwas bedeutet. Ob es etwas mit ihnen macht und etwas in ihnen auslöst. Und das hat Absolute Giganten geschafft.

Die gelöste Stimmung auf der Bühne erinnert inzwischen an ein privates Klassentreffen. Guido A. Schick und Sebastian Schipper spielen sich gegenseitig die Bälle zu, Anekdoten werden ausgetauscht und Erinnerungen aufgefrischt. Dass diese nicht immer unbedingt deckungsgleich zu sein schienen, störte dabei wenig.

Gutgelaunt wurden auch die Zuschauerfragen beantwortet, bei denen es eher um die Musikauswahl oder spezifische Hamburg-Themen geht. DieProtagonisten nahmen dabei weder sich selbst noch das Publikum besonders ernst (»Das weiß ich doch jetzt nicht mehr. Das ist doch schon ewig lange her.«). Auf die Frage einer Zuschauerin, ob die Schlussszene mit dem Kaispeicher A bewusst gewählt wurde, um ein letztes Mal vor Bau der Elbphil­har­monie den unverbauten Blick für die Ewigkeit festzuhalten, erwiderte Schipper trocken, dass man dies damals gar nicht wusste. Eigentlich, fügt er dann flachsend hinzu, sei es genau andersherum gewesen. Die Initiatoren hätten sich bei der Standortwahl vielmehr von dem Film inspirieren lassen. Zunächst sei sogar geplant gewesen, die Philharmonie auf das Hochhaus zu setzen, in dem die drei Freunde Ricco, Walter und Floyd wohnten. Letztendlich hätte sich diese Idee aber nicht realisieren lassen,so dass man ausweichen musste.

Und dann kommt er wirklich, der eine magische Moment. Und mit ihm eine leise, wehmütige Reminiszenz an den Menschen, der heute fehlt.

Als er heute Morgen mit seiner Freundin am Frühstückstisch saß, ergriff Sebastian Schipper zum Abschied noch einmal das Wort, habe es ganz plötzlich und unerwartet heftig zu schneien begonnen, mitten im April. Als er aus dem Fenster sah, musste er an Prince denken, der vorige Woche gestorben sei, und an seinen Song Sometimes its nows in April. Vor allem aber, setzte er leise hinzu, musste er an Frank Giering denken. An Fränki.

Ein letzter langer Applaus und schon war es vorbei. Doch die Magie dieses Momentes wird noch lange nachwirken.

Unsere Reise geht weiter zum Metropolis Kino, wo wir am späten Nachmittag auch Sebastian Schipper wiedertreffen werden. Er selbst lässt sich von dem weiteren Verlauf seiner Reise überraschen. Die Frage nach seinem nächsten Etappenziel beantwortet er lapidar: »Das weiß ich doch nicht, wohin es jetzt geht. Ich setz mich einfach ins Auto und fertig.«

Nach einer kurzen Einführung durch den Filmwissenschaftler Christian Maintz, der es schafft, 120 Jahre deutscher Filmgeschichte und eine Huldigung an das Filmjuwel Absolute  Giganten unterhaltsam in fünf kurzweiligen Minuten zusammenzufassen, flimmerte Absolute Giganten zum zweiten Mal an diesem Tag über die große Leinwand. Diesmal sogar analog.

Die Zahl der Erstseher scheint in diesem Kino, das interessanterweise direkt am Kalkhof, einem Drehort aus Absolute Giganten, gelegen ist, besonders groß. Leider äußerte sich dies in unerwartet häufigen und lang andauernden Lachsalven,die zum Teil die leisen Momente des Filmes übertönen. Aber vielleicht kann man diese Seite des Filmes dannd och erst bei wiederholtem Zuschauen würdigen.

Im anschließenden Filmgespräch wurden die Töne dann etwas leiser, etwas nachdenklicher, was auch ein Verdienst von Christian Maintz war, der es versteht, den Fokus des Gesprächs konsequent auf die Person Frank Giering zu lenken.

Die Frage, wie Sebastian Schipper die Zusammenarbeit mit Frank Giering empfunden habe und ob es Unterschiede im Zusammenspiel Regisseur zu Schauspieler wie in Absolute Giganten oder Schauspieler zu Schauspieler wie in der gemeinsamen Kinoarbeit Die Nacht singt ihre Lieder gegeben habe, beantwortet Schipper sinngemäß wie folgt: »Es ist schon etwas anderes. Als Regisseur wirst Du ja immer in die Rolle des großen Bruders oder sogar in eine väterliche Rolle gedrängt, auch wenn Du das eigentlich gar nicht willst. Ich habe natürlich auch sofort erkannt, dass Fränki ein Mensch in großer Not ist. Ich wusste damit aber überhaupt nicht umzugehen. Es kam immer wieder vor, dass er völlig übernächtigt zu den Dreharbeiten erschien, weil er in der Nacht einfach keinen Schlaf gefunden hat. Oder manchmal auch, weil er zuviel gefeiert hatte. Auf der anderen Seite war er aber auch ein Mensch mit einem unglaublich tollen Humor. Ich erinnere mich noch, wie wir bei den Dreharbeiten zu Die Nacht singt ihre Lieder, der in den Studios von Babelsberg entstanden ist, ein durchgehendes Rollenspiel in den Drehpausen gespielt haben. Das Ganze ging vor allem von Fränki aus. Das war so ein bisschen wie dieses Ding, das man früher als Jugend­licher in seiner Clique gespielt hat. Er hat sich vorgestellt, wie ein völlig Außenstehender – in diesem Fall waren wir zwei Hausmeister – ein solches Fimset wahrnimmt und hat zum Beispiel solche Dinge wie das Catering in seiner Magdeburger Mundart kommentiert. ›Ob man sich wohl da so ein Käsebrötchen einfach nehmen kann?‹ (verfällt in einen sächsischen Dialekt). Er hat auch versucht, mir den Magdeburger Dialekt beizubringen: ich kann mich vor allem an das Wort ›raus‹ erinnern (betont das Wort im breitem Sächsisch als ›raaauls‹).«

Bei Absolute Giganten, so erinnert Sebastian Schipper sich mit einem leisen Lachen, hat er damals immer Personen gespielt, die jemanden einen Witz erzählen, dessen Pointe sie nicht verstanden haben. (sächselnd) »Geht eine Frau zum Arzt… (kurze Pause) Verstehst Du? Ist doch echt witzig, oder?« Das bezog sich dann auf den damals kursierenden Witz: »Kommt eine Frau beim Arzt«.

Christian Maintz fragt nach, wie es zu der Besetzung von Frank Giering kam, der zuvor ja vor allem durch Filme wie Funny Games bekannt war.

Schipper erzählt, dass seine Casting Direktorin An Dorthe Braker Frank Giering aufgrund seiner etwas fülligeren Rolle in Funny Games für die Rolle des Walters eingeladen hatte. »Aber für mich war der Walter zu diesem Zeitpunkt schon fix. Ich hatte die Rolle in Gedanken schon mit Antoine Monot besetzt und hatte eigentlich keine Lust auf ein weiteres Casting. Ich ließ mich dann aber doch überreden. Fränki kam zum Casting und sah genauso aus, wie er dann auch im Film zu sehen ist. Und da wusste ich, ich hatte Floyd gefunden. Ich glaube auch, dass er selbst das so geplant hat und alles dafür getan hat, um für die Rolle des Floyd in Frage zukommen.«

Auf die Frage einer Zuschauerin, wem eher der Verdienst an den Erfolg des Filmes zuzu­schrei­ben sei – ihm als Regisseur oder den Darstellern – erwidert Schipper trocken: »Das ist natürlich mein Verdienst. Ich habe die Darsteller ja besetzt und für ihre Rollen ausgesucht!« Er gibt aber zu, dass er zu Anfang etwas enttäuscht war, da zwischen den Darstellern die gesuchte Freundschaft nicht spürbar war. »Ich hatte ja drei Freunde gesucht. Doch die Drei konnten so gar nichts miteinander anfangen. Sie hatten überhaupt keine Berührungspunkte. Zwei waren Ossis, einer kam aus Fulda. Fränki war ein extremer Einzelgänger, Florian ist gerade Vater geworden und Antoine hat sich zu diesem Zeitpunkt vor allem für Mobil­telefone interessiert.« Auf das Lachen im Publikum führt er weiter aus, dass es damals ganze Zeitschriften über Mobiltelefone gab, die Antoine verschlungen hatte. »Man konnte die jetzt aber auch nicht nächtelang um die Häuser ziehenlassen, damit sie Freunde wurden. Aber das war auch nicht notwendig. Die Drei haben schnell gespürt, wie gut sie vor der Kamera harmonierten und dass sich da etwas ganz Besonderes entwickelte. Und dadurch konnten sie diese Freundschaft vor der Kamera spürbar werden lassen.«

In der Zwischenzeit wandert das Mikrofon weiter durch die Zuschauerreihen, ungläubig kommentiert von Sebastian Schipper, der verblüfft fragt, ob das Mikrofon jetzt tatsächlich von ganz links außen nach ganz rechts außen durchgereicht worden wäre.

Ein Zuschauer, der sich selbst als Erstseher outet, vergisst unterdessen vor lauter Nervosität sein Anliegen. Als er sich wieder gefangen hat, überrascht er nicht nur das Publikum mit der Frage, wer denn jetzt eigentlich dieser Frank Giering, von dem hier dauernd die Rede ist, gewesen sei. »War das derHauptdarsteller?«

Schipper lehnt sich amüsiert zurück und antwortet entspannt: »Ja.« Verschmitzt fügt er hinzu, dass dies zur Abwechslung einmal eine sehr einfache Frage gewesen wäre.

Der Zuschauer bohrt weiter. »Und wie ist er gestorben? Oder ist das ein Geheimnis?«

Zunächst scheint Sebastian Schipper seiner knappen und unterkühlten Antwort »Fränki hatte Alkoholprobleme.« nichts weiter hinzufügen zu wollen. Nach kurzem Zögern und mit deutlicher Trauer in der Stimme ergänzt er dann aber noch, dass »Fränkis« Leben viele dunkle Schatten hatte. Dass er ein sehr melancholischer, sensibler Mensch gewesen sei. Und wie bei vielen hochbegabten Menschen und Künstlern gab es auch eine selbstzerstörerische Kraft in ihm. Für ihn sei das Leben unfassbar schwer und belastend gewesen. Es gab natür­lich auch eine helle Seite: sein unglaublich intensives, fast zärtliches Spiel, sein wunderbarer Humor. Doch all das konnte seine Einsamkeit und seine Verzweiflung dem Leben gegenüber letztendlich nicht kompensieren. Woran er medizinisch gestorben sei, könne er gar nicht sagen. Weil er es auch gar nicht wüsste. Letztendlich sei dies aber eigentlich auch gar nicht wichtig. Letztendlich sei es egal.

Zum Abschied erzählt er noch einmal mit leiser Wehmut von seinem Erlebnis beim morgend­lichen Frühstückstisch. Vom Schnee. Von Prince. Und natürlich von Fränki.

Mit einem letzten Applaus leert sich der Zuschauerraum. Die Karawane zieht weiter.

Wir bleiben.

Während sich später im Abaton alle heute anwesenden Protagonisten zu einem letzten großen Klassentreffen zusammenfinden und später den Abend im HeadCrash ausklingen lassen werden, würdigen wir Frank Giering im kleineren Kreis mit einer filmischen Retro­spektive.

Die über Facebook geteilte Vorfreude der Verantwortlichen auf den Film Gangster schien – wie wir hier herausfanden – durchaus echt zu sein. Die Festivalleiterin Manja Malz, die es sich nicht nehmen ließ, persönlich die einführenden Worte zu sprechen, freute sich sichtlich auf diesen Film, der auch für sie eine absolute Premiere darstellte. Wir schienen tatsächlich die einzigen Personen im Saal zu sein, die nicht zu den Erstsehern zu zählen waren.

Zwei Filme später verließen wir müde und verschwitzt, aber mit einem seligen Lächeln im Gesicht den vertraut gewordenen Kinosaal des Metropolis Kinos, schritten mit etwas Wehmut ein letztes Mal die Fotoausstellung im Foyer ab, bevor wir endgültig die Heimreise zu unserem Hotel antraten.

Am nächsten Tag – der Schnee ist längst wieder in Regen übergegangen – gehen die Gedan­ken erneut zu Frank Giering. Robin Proper-Sheppard, Kopf und Sänger der Band Sophia, die dem Film Absolute Giganten mit ihrenbeiden Songs Reprise und If only ein musikalisches Denkmal gesetzt haben, ist zu Gast in Hamburg und findet an diesem Abend im Nocht­speicher unerwartet persönliche Worte. Obwohl er Frank Giering nicht persönlich kannte, wusste er doch um seine Probleme und seinen viel zu frühen Tod, der im englischen so viel poetischer klingt: »He passed away«. Proper-Sheppard ist vor allem die Schlussszene in Erinnerung geblieben. Sein Blick, als ermit seinen Freunden ein letztes Mal über die Köhl­brand­bücke fährt, hat sich ihm für immer ins Gedächtnis eingebrannt. »Behind his eyes« ist in diesen Moment so viel mehr zu sehen und zu spüren, spiegeln sich so viele Gefühle und eine solche tiefe Melancholie in seinen Augen, dass es keiner Worte bedarf, um zu verstehen. Wahre Schauspielkunst wirkt auch jenseits aller Sprachbarrieren.

Als die ersten Töne von If only erklingen,die an diesem Abend ganz allein Frank Giering gewidmet sind, hat man wieder diese Szene vor Augen. Schöner kann ein Konzert nicht berühren.

Später, auf dem Heimweg, fängt es dann doch wieder an zu schneien, mitten im April.

Fränki?