Der Verlust der Heimat und das Ende der Kindheit

Privat ergibt sich für Frank Giering ebenfalls eine gravierende Veränderung. Durch den Umzug seiner Eltern in die lang ersehnte Wohnung mit Elbblick, verliert er mit seinem Kinderzimmer einen wichtigen Rückzugsort. Noch Jahre später wird er sich mit leiser Wehmut an diesen Ort, der für ihn wirkliche Heimat war, zurücksehnen. Auch oder gerade weil er sehr schlicht und bescheiden war und ihm weder Komfort noch Luxus bot. »Das war eigentlich ein ziemlich enges Zimmer. Wenn man reinkam stand da links die alte Schrank­wand meiner Eltern – ich hatte ihnen irgendwann eine neue gekauft – und rechts stand eine Liege, also mein Bett. Dahinter stand ein Sessel und gegenüber in der Schrankwand stand am Ende – natürlich – ein Fernseher. Aber ich habe da jetzt nicht wirklich die ganze Zeit gewohnt – wie man sich das jetzt vielleicht vorstellt, wenn man hört: mit 29 noch zuhause gewohnt. Ich habe ja schon viel früher studiert und habe auch schon gedreht und war dann viel unterwegs. Ich hatte mir aber keine eigene Wohnung genommen, weil ich es dann eigentlich auch immer ganz schön fand, wenn man aus dieser Welt des Filmes dann auch mal wieder zurückkommt. Nach Hause einfach.« [1] In der neuen, kleineren Wohnung ist kein Platz mehr für ihn. [2] Wie sehr er es genossen hat, immer wieder an den Ort zurückkehren zu können, wo seine Träume einst entstanden sind, hat er erst ein Jahr zuvor in einem Interview mit der Zeitschrift Allegra angedeutet: »Jeder vermutet, dass ich eine schicke Altbauwohnung in Berlin habe, aber hier empfinde ich eine andere Form von Luxus: Ich stehe auf dem gleichen Balkon, auf dem ich als Kind von der Schauspielerei geträumt habe, sehe den gleichen Bus vorbeifahren und habe immer noch den Geruch verbrannter Komposthaufen in der Nase. Erst jetzt ist mir klargeworden, dass das hier Heimat bedeutet.« [3]

Auch wenn er später zugibt, dass es – neben den finanziellen Unwägbarkeiten seines Berufes – auch ein Stück weit Bequemlichkeit und Faulheit waren, die ihn davon abhielten, eine eigene Wohnung zu suchen, so half ihm die vertraute Umgebung doch auch, sich nach Wochen in virtuellen Scheinwelten und dem Leben in 5-Sterne Hotels neu zu erden. [4] »Es ist ja dann zum Beispiel auch so: im Hotel freue ich mich, wenn ich mir – keine Ahnung, was … Sushi kaufen kann. Das macht meine Mutter eh nicht. Aber wenn ich dann wieder nach Hause komme, freue ich mich dann auch wieder darauf, eine Bohnensuppe oder so essen zu können. Und dann ist es andererseits natürlich auch sehr hilfreich – dass ist auch wahr – wenn man es einfach immer wieder erlebt und spürt – ohne sich das jetzt direkt bewusst machen zu müssen – dass es noch etwas Anderes gibt als den Service eines 5-Sterne Hotels. Das ist natürlich auch nur ein Job, den die machen.« [5]

In Magdeburg wird ihm immer wieder bewusst, dass er seinen Traum, Schauspieler zu werden, jetzt lebt. Das hilft ihm auch, sich eine gewisse Demut und Dankbarkeit dem Leben gegenüber zu bewahren. »Heimat ist ja immer schwer beschreibbar. Aber für mich ist es eben so ein schönes Gefühl, wenn ich da bin. Dort kann ich immer noch an gewisse Orte gehen, wo ich damals schon als Kind gewisse Träume hatte, die für mich heute Realität sind. Und dort kann ich auch so ein gewisses Gefühl der Dankbarkeit, dass ich das jetzt machen darf, viel mehr wahrnehmen. Also von wegen: Ja, ich wollte irgendwann einmal etwas in der Art machen, was ich jetzt mache – ohne das überhaupt gewusst zu haben. Nur irgendwas gespürt und gefühlt, und jetzt darf ich das machen. Und das kriegt man oft – wenn man das macht – gar nicht so mit. Aber an so Orten, wo man noch Wünsche und Träume hatte, da wird einem das wieder bewusst.« [6]

Auch oder gerade weil ihn in Magdeburg keiner wirklich beachtet. »Wenn Du eine große Premiere hattest, der Film ist erfolgreich, die Presse schreibt gut und die Leute sprechen Dich auf der Straße an, dann ist das schon gut. Es schmeichelt dem eigenen Ego. Wenn ich danach zurück nach Magdeburg komme, erkennt mich keiner. Das kann ganz schön ernüchternd sein, aber es ist auch gut, immer mal wieder zurückgeholt zu werden und zu merken, dass Du einfach auch nur ein ganz normaler Mensch bist.« [7]

Obwohl er zugibt, dass die Missachtung der lokalen Presse auch weh tut. »Ich will mal so sagen: wenn eine Fee kommen und mich fragen würde, willst Du nach Ägypten fliegen und eine 12-seitige Fotostrecke für die Cinema machen oder einen Beitrag auf der Kulturseite der Volksstimme haben, dann wäre die Antwort klar. Aber irgendwann ändern sich auch da die Zeiten. Mittlerweile bin ich an einem Punkt, wo ich sagen kann, ja ich war mit der Cinema in Ägypten und hatte lange Beiträge in den großen deutschen Zeitungen. Nur in Magdeburg hat man davon noch keine Notiz genommen. Ich bin enttäuscht, dass sich die Lokalzeitung nicht interessiert. Nicht weil es mich beruflich nach vorn bringen würde, einfach weil es, denke ich, eine Motivation für junge Leute wäre. Guck mal, der hat das von hier aus geschafft. Da sprechen mich Leute an und können sich einfach nicht vorstellen, dass ich wirklich von hier komme. Wenn so ein Thema von der lokalen Presse nicht angenommen wird, dann finde ich das ignorant.« [8]

Selbst wenn er den überwiegenden Teil des Jahres beruflich unterwegs ist und nur die drehfreien Zeiten bei seinen Eltern verbringt, ist der Auszug aus seiner Kindheit und die damit einhergehende Verantwortung für sein eigenes Leben ein großer, ein gewaltiger Schritt, der in ihm auch neue Ängste schürt. »Hätte ich einen geregelten Beruf mit monatlichem Einkommen gehabt, wäre ich sicher früher ausgezogen. Aber ich war mir sehr lange nicht sicher, ob ich von der Schauspielerei leben kann. Eine Alternative ist für mich schwer zu finden. Nicht nur weil ich mit Leidenschaft Schauspieler bin. Ich kann auch nichts anderes.« [9]

Bei der Wohnungssuche ist ihm die Nähe zu einem Bahnhof mit Verbindung nach Magde­burg wichtiger als sonstige Qualitäten. So ist er auch mit der erstbesten Wohnung zufrieden, die seine Agentur ihm vermittelt. [10] »Die Wohnung hatte 4 Wände, eine Tür, die man zumachen konnte – und sie war klein – also genau das, was ich wollte.« [11] Zudem erinnert sie ihn an seine gewohnte Umgebung. [12]

Doch Heimat wird sie ihm nach eigener Aussage nie, bestenfalls sieht er in ihr einen Warteraum bis zu den nächsten Dreharbeiten. Heimat, so sagt er später einmal, hängt weniger von einem Ort ab als von den Menschen. »Heimat ist dort, wo ich mich selbst finde, wo ich sagen kann, ich bin ich, und jetzt bleib ich hier.« Angekommen ist er dort aber noch nicht. »Diese Heimat muss ich in mir selbst suchen.« [13]

Gefangen in der Angst, dass die Angebote nun endgültig versiegen könnten, verstreicht mehr als ein Jahr, bevor er die Wohnung wirklich in Besitz nimmt, den letzten Karton ausräumt und den ersten Nagel in die Wand schlägt.

Aber die Angebote bleiben nicht aus. Es ergeben sich sogar Rollenangebote, die auf den ersten Blick gar nicht passen sollten. Durch seine Kollegin Laura Tonke, mit der er bereits in dem Film Gangster von Volker Einrauch ein Liebespaar spielte, erhielt er eine Empfehlung für die Rolle des RAF Terroristen Andreas Baader in dem gleichnamigen Film von Christopher Roth. Auch wenn er nur wenig äußerliche Ähnlichkeit mit dem echten Andreas Baader aufweist, überzeugt er Roth durch die Tiefe seiner Darstellung. [14] Er spielt Baader als einen Getriebenen, dessen Verzweiflung in jeder Geste spürbar wird. [15] In einem Interview begründet er diese Interpretation später und gibt einen Einblick, wie er die Rolle für sich entwickelt hat. Da er insgesamt nur wenige Anhaltspunkte über den Menschen Andreas Baader zur Verfügung hat, entschließt er sich, die Figur wie jede andere fiktive Rolle rein aus dem Drehbuch heraus zu entwickeln und dabei völlig auszuklammern, dass es sich um eine reale Person handelt. Auch, wie er später zugibt, weil er sich sonst gar nicht zugetraut hätte, diese Rolle zu spielen. Seine zentrale Frage ist dabei, »wie war er eigentlich als Mensch? Das wusste ich nicht und hatte auch kein Material darüber. (...) Und ich habe gedacht, dass ich eigentlich noch viel mehr über ihn sammeln müsste, um zu wissen, wie er so war. Aber ich habe da halt nicht viel gefunden. Ich habe nur gehört, dass ein markantes Zeichen von ihm war, dass er sehr schnell gesprochen hat. Und ich weiß von mir selbst oder auch von anderen Leuten, die schnell sprechen, dass es dafür immer einen Grund gibt. Entweder dass man so schnell denkt oder dass man das Gefühl hat, man muss alles ganz schnell aussprechen, bevor man es wieder vergisst. Und dass das jetzt einfach raus muss. Und das habe ich dann so ein bisschen als Basis für jemanden genommen, der einfach so getrieben ist. Ansonsten habe ich mir aber eigentlich vorgestellt, ich spiele eine fiktive Figur. Ich hätte sonst schon ein bisschen Angst gehabt, jemanden zu kopieren – und dann vielleicht falsch zu kopieren. (...) Im Prinzip war das Drehbuch dann sozusagen die Welt. Die Sätze waren die Auswirkungen und ich habe überlegt, was dafür die Ursache sein könnte. Ich habe dann Parallelen zu meinem Leben gesucht. Und ich weiß, dass es Momente gibt, in denen man einfach etwas behauptet, etwas herausprahlt. Und man muss dann entweder dazu stehen oder die Worte zurücknehmen und sagen: ›Hey, das hab ich nicht so gemeint.‹ Ich glaube einfach, dass der das auch so gemacht hat. Dass der zum Beispiel einfach so einen blöden Satz gesagt hat wie: ›Irgendwelche Protestfahnen reichen nicht! Wir müssen irgendwas in die Luft jagen, meinetwegen die Gedächtniskirche oder irgendwas Anderes!‹ Und auf einmal hatte das eine Wirkung und er musste dann dazu stehen. Dann konnte er nicht mehr sagen: ›Naja, komm, das war jetzt ein bisschen übertrieben.‹ Sondern er musste dazu stehen. Und wie wird ein Mensch, wenn er zu Dingen, die er einfach so rausprahlt, dann auch wirklich stehen muss, sie verwirklichen muss, sie realisieren muss? Man kommt dann in einen Konflikt und in eine Spannung, obwohl man das eigentlich gar nicht wollte. Aber jetzt muss man das machen. Und das bringt einen dann zu einer Getriebenheit, so dass man im Prinzip ständig unter Strom steht. Und so habe ich dann auch versucht, die Rolle anzulegen, (...) dass da jemand unendlich getrieben ist, gleichzeitig aber auch verzweifelt. Aber gerade das darf er nicht zeigen.« [16]

Der Film erhält eine Einladung als Wettbewerbsbeitrag für die Berlinale 2002. Frank Giering genießt sichtlich den Trubel und die Aufmerksamkeit der Presse. Fünf Jahre zuvor hatte er die Filmfestspiele in Cannes, für die Funny Games nominiert war, leider verpasst. Die Enttäuschung ist ihm immer noch anzumerken. »Damals hatte ich leider Opernball gedreht und konnte nicht kommen. Ich wär aber gern nach Cannes gereist, genau wie ich jetzt gern hier bin. Es gibt lauter Termine, man kann mal was sagen und will auch gehört werden, es ist alles so spannend. Ich würde das am liebsten jeden Tag machen.« [17]

Doch ein Heimspiel wird es für ihn leider nicht.


[1]     Interview Frank Giering, in: Thadeusz, Erstausstrahlung 09.03.2010, RBB.

[2]     Hildebrandt, Antje: Ich bewundere Homer Simpson, in: Frankfurter Rundschau vom 07.12.2006 und Jüttner, Julia: Menschenscheu und schüchtern, in: http://www.spiegel.de/panorama/leute/0,1518,678863,00.html abgerufen am 28.08.2012.

[3]     Kohls, Mareile: Der Mork von Magdeburg, in: Allegra, Heft 1/2000, S. 152.

[4]     Hildebrandt, Antje: Ich bewundere Homer Simpson, in: Frankfurter Rundschau vom 07.12.2006 und Interview Rubrik »Das rote Sofa«: Ich weiß nicht, wie man einen Computer anmacht, in: Super TV, Heft 40/2007, S. 130.

[5]     Interview Frank Giering, in: Thadeusz, Erstausstrahlung 09.03.2010, RBB.

[6]     Interview Frank Giering, in: Thadeusz, Erstausstrahlung 09.03.2010, RBB.

[7]     Engelhardt, Conrad: Absoluter Gigant, in: Dates Stadtmagazin Magdeburg, Heft 12/1999, S. 29.

[8]     Engelhardt, Conrad: Absoluter Gigant, in: Dates Stadtmagazin Magdeburg, Heft 12/1999, S. 30.

[9]     Interview Rubrik »Das rote Sofa«: Ich weiß nicht, wie man einen Computer anmacht, in: Super TV, Heft 40/2007, S. 130.

[10]    Hunfeld, Frauke: Zu ängstlich fürs Leben, in: Der Stern, Heft 29/2010, S. 63.

[11]    Vogt, Rainer: Am liebsten schwarz, in: Stern TV Magazin, Heft 48/2006, S. 2.

[12]    Hellmers, Sara: Hausbesuch Frank Giering, in: Blond, Heft 2/2004, S. 52.

[13]    Hortig, Nina: Einfach ankommen, in: http://www.viva.de/film.php?op=tv&what=show&Artikel_ID=75182 abgerufen am 28.08.2012.

[14]    Interview Christoph Roth, in: Bonusmaterial DVD Baader.

[15]    Rodek, Hanns-Georg; Sudholt, Eva: Der sehnsüchtige Gigant, in: Welt am Sonntag vom 27.06.2010.

[16]    Interview Frank Giering, in: Bonusmaterial DVD Baader

[17]    Bartels, Christian: Ich hatte Angst, zu nett zu sein, in: http://www.netzeitung.de/qt/178745.html abgerufen am 28.08.2012.