Erste Ernüchterung oder von einem, der auszog, einen raum zu füllen

Der Mauerfall im November 1989 ändert alles, auch das Leben von Frank Giering. Die Zukunft der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg (HFF Potsdam) ist zunächst gefährdet. [1] Dies ist vermutlich der Grund, weswegen Frank Giering nach seinem Abitur und der Ableistung seines Zivildienstes [2] zunächst ein Studium an der Schau­spiel­schule Bochum vorzieht.

Eine Entscheidung aus reiner Abenteuerlust wird es wohl nicht gewesen sein, da für ihn die große weite Welt nur so lange reizvoll ist, wie er sie sich erträumen kann. [3] Der Entschluss, ein Studium im Westen zu absolvieren, ist insofern ein immens großer Schritt für ihn. »Die große, weite Welt fand ich nur so lange verlockend, wie ich sie mir erträumen konnte. Sie zu erkunden, dazu war ich zu ängstlich. Für mich war es schon ein Abenteuer, in den Westen zu gehen, um in Bochum an der Schauspielschule zu studieren.« [4]

Der anfänglichen Euphorie folgt leider sehr schnell die erste Ernüchterung. Zwar kann er sich mit dem Westen doch recht schnell anfreunden, aber das Studium gefällt ihm nicht. »Der Westen war auch prima – aber die Schule nicht.« [5] Zudem merkt er, »wie abhängig man davon ist, ob einen ein Dozent mag oder nicht mag.« [6]

Nach einem Jahr gibt er auf und wechselt auf die wieder eröffnete HFF Potsdam. Doch auch hier kann er seine Vorstellungen nicht verwirklichen. [7] Nach wie vor scheint er von der Erfüllung seiner Träume meilenweit entfernt zu sein. »Ich wollte einfach nur spielen, dass es allerdings so ernsthaft zuging, mit Zweit- und Drittlektüre war mir nicht klar gewesen. Immer musste ich mich entwickeln, mein Zentrum suchen, es gab komische Übungen, die ich nicht kapiert habe.« [8] So zum Beispiel die Darstellung des psychologischen Gestus eines Steins aus dem 18. Jahrhundert, an der er im Pantomimeunterricht kläglich scheitert. [9]

Den Mitarbeitern der HFF Potsdam bleibt Frank Giering als ein sehr höflicher und zugleich sehr schüchterner junger Mann in Erinnerung, dem sie seinen späteren Erfolg von Herzen gönnen. [10] Aelrun Goette, die zeitgleich mit Frank Giering an der HFF Potsdam Regie studiert, beschreibt einen schüchternen, unsicheren Menschen ohne viel Selbstwertgefühl, der nur durch die Bestätigung von außen zu existieren scheint. »Wir haben zusammen studiert, an der Filmhochschule in Babelsberg, er Schauspiel, ich Regie. Da stand er immer rauchend im Flur, schüchtern lächelnd, und war schon damals so anders. Offen und ohne Haut. Während seine Studienkollegen ihre Ängste mit großen Gesten überspielten, schien er seine Schwächen vor sich her zu tragen. Immer ungläubig, wenn man begeistert von ihm war. Wie ein Kind, mit staunenden Augen, als könne er im Gesicht seines Gegenübers ein Stück vom eigenen Selbst erkennen. Als würde er nur durch den Anderen existieren. Und manchmal, einen kurzen Moment lang, da sprang der Funke über. Und er konnte es annehmen.« [11]

Die dringend benötigte Bestätigung wird Frank Giering allerdings seitens seiner Professoren verwehrt. Stattdessen hagelt es Kritik, die tiefe Spuren bei Frank Giering hinterlässt und ihn zunehmend frustrieren und zermürben wird. [12] Noch Jahre später ist ihm der Schmerz anzumerken. In zahlreichen Interviews wird immer wieder deutlich, wie sehr ihn diese Jahre belastet haben müssen. [13]

Aelrun Goette ahnt schon während der gemeinsamen Studienzeit, dass das große Talent und die selbstzerstörerische Kraft, die bei ihrem Freund stets dicht unter der Oberfläche lauern und ihn zu verschlingen drohen, sich gegenseitig bedingten. [14] Auf ihre Art versucht sie, ihn vor sich selbst zu schützen. »Damals haben wir uns versprochen: Irgendwann, wenn wir groß sind, dann drehen wir zusammen. Ich habe nur zwei Filme mit ihm machen dürfen. Aber wir hatten uns geschworen: keine Arbeit von mir ohne ihn. Nicht nur, weil er einer der Besten war. Sondern weil er ein Freund war, mit der Seele eines Schmetterlings, nie wirklich greifbar und immer zu nah am Feuer. Ein Schmetterling, der in der einsamen Nacht zu vergehen drohte.« [15]

Es ist daher nachvollziehbar, dass Frank Giering die Lehrmethoden nach Strasberg, bei denen man gezwungen ist, sein Innerstes zu erkunden und nach außen zu kehren, als psychisch und physisch sehr fragwürdig empfindet. Die Übungen, die er als eine Art ungeschützte und unkontrollierte Konfrontationstherapie beschreibt, setzen ihm immer mehr zu. [16] »Da musste man nackt in Unterhosen die Geburt nachspielen oder mit einem Stuhl in den Raum der Erinnerung gehen und dort Hänschen Klein singen. Eine Schülerin bekam dabei einen Heulkrampf, ein anderer zerdepperte den Stuhl und schlug ihn kurz und klein. Irgendwann wusste ich nicht mehr, ob ich in die Psychiatrie eingeliefert wurde oder freiwillig dort bin.« [17]

Zunehmend sieht er seine geistige Gesundheit gefährdet. »Ich war in Bochum und in Potsdam. Und das war im Nachhinein das Schlimmste, was mir passieren konnte. Ich kann wirklich nur jedem, der Schauspieler werden will, raten, nicht auf so eine Schule zu gehen. Weil es so desillusionierend ist: Man muss perfekt sein. Kein Fehler, den man macht, ist gut; es ist immer nur schlecht. Und alle machen sich selbst kaputt und sagen: ›Okay, ich bin schlecht. Ich könnte es besser machen.‹ Und das stimmt einfach nicht. Fehler einfach mal zuzulassen und zu sagen: ›Okay, ich bin halt ein Mensch und ich habe Fehler.‹ – das mal zuzulassen, das passiert in diesen Schulen nicht. Aber das müsste eigentlich passieren!« [18] Er hat das Gefühl, dass die Studierenden förmlich gebrochen werden, um anschließend nach der Vorstellung der Dozenten neu geformt und aufgebaut zu werden. Und das darf sich seiner Meinung nach kein Mensch anmaßen. [19] »Ich meine, wer kann sich herausnehmen, zu sagen: ›Ich breche diesen Menschen.‹? Das kann vielleicht Gott, aber das kann kein Mensch!« [20]

Die Lage spitzt sich für ihn weiter zu, als ihm plötzlich die BAföG-Leistungen gestrichen werden. Zusätzlich zu seiner inneren Zerrissenheit und seinen Selbstzweifeln kommen jetzt noch finanzielle Sorgen hinzu. Von seinen Eltern kann er zu diesem Zeitpunkt keine Unterstützung erwarten. Ihr Betrieb ist in der Zwischenzeit abgewickelt worden, beide sind arbeitslos. Da ihm die Zeit zum Jobben fehlt, steht sein Studium mit einem Mal auf der Kippe. Ein Besuch auf dem Sozialamt bringt zunächst keine Hilfe. Man erklärt ihm, man könne nichts für ihn tun. Betäubt und verzweifelt bleibt er im Flur sitzen und weiß weder ein noch aus. So findet ihn eine vorbeieilende Mitarbeiterin. »Gottes Fügung« bezeichnet er später diese Begegnung, die ihm – entgegen aller Vorschriften – ein rückzahlungspflichtiges Sozial­hilfe­darlehen mit halbjähriger Laufzeit und einer monatlichen Auszahlungssumme in Höhe von 500 DM bescheren wird. [21] Noch ist er nicht bereit, seinen großen Traum aufzugeben. Auch wenn dies bedeutet, seinen irdischen Hunger lange Zeit überwiegend mit Dosensauerkraut stillen zu müssen. [22]

Später sagt er, er würde komplett anders ausbilden. »Man müsste den Mut finden, man selber zu sein. Das habe ich dort nicht lernen können.« [23] Aber auch, dass man Schauspielerei seiner Meinung nach gar nicht lernen könne. Allenfalls eine Art Handwerk, das einem auf der Theaterbühne weiterhelfen könne. »Ich bin überhaupt kein Befürworter von Schauspielschulen. Was man da lernt, ist vielleicht gut fürs Theater – als eine Art Handwerk: tiefe Stimme, aufrechter Körper und so was in der Art. Aber eigentlich kann man Schauspielerei nicht lernen. Man muss einfach so echt sein, wie es geht. Und zu seinen Gefühlen stehen, zu seinen Ängsten. Und dann aus diesen Ängsten etwas holen. Was man aber gar nicht kann, wenn man immer nur lernt, stark zu sein, und kräftig zu sein. Und keine Fehler zu haben.« [24]

Am meisten aber verzweifelt er an den Ansprüchen an seine Bühnenpräsenz. Ständig wird er aufgefordert, lauter zu sein, nicht so verhalten zu agieren, den ganzen Raum zu füllen. Immer wieder heißt es: »Nicht so leise. Bitte zeigen Sie mehr, mehr – und lauter, bitte, lauter!« Trotz aller Versuche, trotz all seiner verzweifelten Anstrengungen, schafft er es bestenfalls, die ersten beiden Reihen zu erreichen. Resigniert wird er später sagen: »Beim Theater hatte ich immer Schwierigkeiten, einen Raum zu füllen. Wenn ich lauter werden sollte, wurde ich kleiner.« [25] Das Große, Theatralische liegt ihm nicht. Er merkt, wie er in der Folge immer mehr verkrampft. [26]


[1]     Lipowski, Egbert: Curriculum vitae einer Berühmten, in: Schättle, Horst; Wiedemann, Dieter (Hrsg.): Bewegte Bilder, Bewegte Zeiten – 50 Jahre Film- und Fernsehausbildung HFF »Konrad Wolf« Potsdam-Babelsberg, S. 94-102 und Beitrag Filmhochschule Defa Stiftung, in: http://www.defa.de/cms/DesktopDefault.aspx?TabID=1031, abgerufen am 28.08.2012.

[2]     Rodek, Hanns-Georg; Sudholt, Eva: Der sehnsüchtige Gigant, in: Welt am Sonntag vom 27.06.2010 und Vogt, Rainer: Am liebsten schwarz, in: Stern TV Magazin, Heft 48/2006, S. 2 und Interview Frank Giering, in: Volle Kanne, Erstausstrahlung 20.02.2003, ZDF.

[3]     Hildebrandt, Antje: Ich bewundere Homer Simpson, in: Frankfurter Rundschau vom 07.12.2006.

[4]     Hildebrandt, Antje: Ich bewundere Homer Simpson, in: Frankfurter Rundschau vom 07.12.2006.

[5]     Hildebrandt, Antje: Ich bewundere Homer Simpson, in: Frankfurter Rundschau vom 07.12.2006.

[6]     Interview Frank Giering, in: Thadeusz, Erstausstrahlung 09.03.2010, RBB.

[7]     Hübner, Katja: Der Sentimentale, in: Der Tagesspiegel vom 24.02.2010.

[8]     Hübner, Katja: Der Sentimentale, in: Der Tagesspiegel vom 24.02.2010.

[9]     Hübner, Katja: Der Sentimentale, in: Der Tagesspiegel vom 24.02.2010.

[10]    Gespräch mit Corinna Erkens am 20. November 2012 bei einer privaten Filmvorführung einer Kunstlichtübung aus dem 1. Studienjahr mit dem Titel Leonce und Lena.

[11]    Goette, Aelrun et al: Absturz eines Seiltänzers, in: Berliner Zeitung vom 03.07.2010.

[12]    Vogt, Rainer: Am liebsten schwarz, in: Stern TV Magazin, Heft 48/2006, S. 2.

[13]    Z.B. Interview Frank Giering, in: MDR um zwölf, Erstausstrahlung 27.06.2000, MDR und Interview Frank Giering, in: Volle Kanne, Erstausstrahlung 10.01.2007, ZDF.

[14]    Goette, Aelrun et al: Absturz eines Seiltänzers, in: Berliner Zeitung vom 03.07.2010.

[15]    Goette, Aelrun et al: Absturz eines Seiltänzers, in: Berliner Zeitung vom 03.07.2010.

[16]    Hildebrandt, Antje: Ich bewundere Homer Simpson, in: Frankfurter Rundschau vom 07.12.2006 und Döringer, Martin: Plötzlicher Tod des Schauspielers Frank Giering, in: http://www.suite101.de/content/ploetzlicher-tod-des-schauspielers-frank-giering-a79369, abgerufen am 28.08.2012.

[17]    Jüttner, Julia: Menschenscheu und schüchtern, in: http://www.spiegel.de/panorama/leute/0,1518,678863,00.html abgerufen am 28.08.2012.

[18]    Interview Frank Giering, in: Volle Kanne, Erstausstrahlung 10.01.2007, ZDF.

[19]    Interview Frank Giering, in: Volle Kanne, Erstausstrahlung 10.01.2007, ZDF.

[20]    Interview Frank Giering, in: Volle Kanne, Erstausstrahlung 10.01.2007, ZDF.

[21]    Hübner, Katja: Der Sentimentale, in: Der Tagesspiegel vom 24.02.2010 und Kohls, Mareile: Der Mork von Magdeburg, in: Allegra, Heft 1/2000, S. 151.

[22]    Rating, Britta: Wir vermissen Dich, Frank!, in: Grazia, Heft 28/2010, S. 122.

[23]    Loehrs-Kaiser, Kai: Dämonisches Muttersöhnchen, in: Berliner Morgenpost vom 03.12.2006.

[24]    Interview Frank Giering in: MDR um zwölf, Erstausstrahlung 27.06.2000, MDR.

[25]    Hildebrandt, Antje: Der Nesthocker, in: Stuttgarter Zeitung vom 09.12.2006.

[26]    Kurzporträts: Wie im Märchen, in: Stern TV Magazin, Heft 52/1998, S. 46 und Vogt, Rainer: Am liebsten schwarz, in: Stern TV Magazin, Heft 48/2006, S. 2 und Hildebrandt, Antje: Der Nesthocker, in: Stuttgarter Zeitung vom 09.12.2006.